Editorial

Zur Einführung: Wirtschaftsästhetik
Martin Tröndle im gespräch mit Armin Chodzinski

PDF herunterladen

Chodzinski: Was bedeutet der Begriff Wirtschaftsästhetik?

Tröndle: In dem Feld „Wirtschaftsästhetik“ arbeiten unterschiedliche Personengruppen, das sind beispielsweise Künstler, Organisationsberater oder Wissenschaftler. Sie verfolgen verschiedene Ansätze, was sich auch in den Termini zeigt, die zur Bezeichnung verschiedener Akzentuierungen innerhalb des Feldes dienen, wie beispielsweise organisational art, art in company oder organizational aesthetics. International hat diese Auseinandersetzung bereits in den 1990er Jahren begonnen.1 Mittlerweile sind zahlreiche Publikationen zu dem Thema erschienen,2 2012 ist das Journal Organizational Aesthetics3 gegründet worden. Das Feld Wirtschaftsästhetik respektive Organizational Aesthetics ist dabei, sich zu begründen.

Gemeinsam ist ihnen eine Auseinandersetzung mit den Künsten und der Wirtschaft. Der Begriff „Wirtschaftsästhetik“ ist der Versuch, diese Ansätze für den deutschen Sprachraum zu bündeln und die Anschlussfähigkeit an die Organisationstheorie herauszuarbeiten.4 Wissenschaftshistorisch gesehen finden sich immer wieder Wortkreationen dieser Art, wie Wirtschaftssoziologie, Wirtschaftsgeschichte oder Wirtschaftsethik. Sie verweisen jeweils auf ein zu ihrer Zeit neues Forschungsfeld, in dem man dann einen bestimmten Aspekt wirtschaftlichen Handelns aus einer bestimmten Perspektive untersucht. Mit dem Begriffszusammenschluss von Wirtschaft und Ästhetik sollte ein Begriff angeboten werden, der die Ästhetik verstärkt in die Organisationstheorie bzw. in die Wirtschaftswissenschaften einführt. Angesichts der allgemeinen „Ästhetisierungsdebatte“,5 die besonders im Bereich der politischen Theorie in Reaktion auf Jacques Rancières Politik der Ästhetik, aber auch in der künstlerischen Forschung im Hinblick auf deren epistemische Praktiken geführt wird,6 drängt es sich geradezu auf, auch die Wirtschaft aus der Perspektive der (angewandten) Ästhetik zu beobachten.

Chodzinski: Gibt es denn für diese Begriffsbildung eine Notwendigkeit?

Tröndle: Wenn man die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften anschaut, dann wird deutlich, dass sie immer eine Collagen-Disziplin waren, was bereits der Plural anzeigt.7 In den Anfängen um 1880 bis 1920 hat man die Organisation vor allem technisch beschrieben. Die Organisation wird als Maschine gedacht. Das Uhrwerk ist die durchgängige Metapher: Man sieht, wie die einzelnen Zahnräder ineinandergreifen und dieses ineinander Greifen der Zahnräder bildet die Vorstellung, wie Organisation organisiert werden muss: Menschen werden zu Zahnrädern und sie müssen funktionieren. Wunderbar parodiert in Charles Chaplins „Modern Times“ von 1936.

Bilder und Modelle wie die Linien- und Prozessorganisation sind Versinnbildlichungen dieser Geisteshaltung und die Metapher des Uhrwerks ist bis heute noch aktuell. Selbst in Redewendungen wie „das läuft wie geschmiert“ und „da knarzt das Getriebe“ hat dieses Bild Einzug erhalten. In jedem Management-Handbuch werden letztlich die Grundfunktionen von Luther Gulick benannt, die er 1954 formulierte: Planning, Organizing, Staffing, Directing, Coordinating, Reporting, Budgeting.

Nicht wenige glauben bis heute, dass Management so funktioniert, wie es in diesen Büchern steht: ein linearer, planbarer Prozess, der zerlegbar und vor allem kontrollierbar ist. Das prägt unsere Vorstellung, wie wir in Organisationen miteinander umgehen und das obwohl dieses Denken schon sehr früh, z.B. mit den Hawthorne-Experimenten der 1920er Jahre8 angegriffen oder sogar außer Kraft gesetzt wurde. Es kommt der menschliche Aspekt dazu, die Behavioural Studies entstehen, die Organisationspsychologie, die Organisationssoziologie. Die Umwelt der Organisation wird entdeckt, die Systemtheorie kommt dazu, auf der einen Seite die eher kybernetisch geprägte St. Galler Schule, um Hans ULRICH, Fredmund MALIK, Gilbert PROBST und anderen, auf der anderen Seite die soziologisch geprägte Schule beispielsweise um Niklas LUHMANN, Dirk BAECKER, Helmut WILLKE. Aus jeder dieser Perspektiven versucht man, die Organisation nun anders zu verstehen und neu zu denken. Es kommt die Idee der evolutionären Organisation auf9, man macht Anleihen in der Biologie und beschreibt lebende, sterbende und kranke Organisationen. Jede dieser Wendungen hat neue Modelle der Organisation hervorgebracht. Diese Modelle prägen unser Denken darüber, was eine Organisation ist, wie man sie organisiert und was sie leisten kann. Die Organisationstheorie der letzten hundert Jahre machte ja nichts anderes als unterschiedliche Beschreibungen dessen zu erarbeiten, was eine Organisation sein kann. Wenn wir Organisationstheorie so denken, dann ist interessant, dass die Künste in diesen organisationalen Diskurs bisher keinen Einzug erhalten haben.

Das Kulturmanagement ist gleichsam prädestiniert dafür, diesen Brückenschlag zu probieren. Nicht nur, weil wir uns inhaltlich mit den Künsten und der Organisation beschäftigen, sondern auch weil wir mit Kunst und Künstlern arbeiten und forschen. Das Kulturmanagement fragte lange Zeit danach, was der ,Kulturbetrieb‘ von dem ,Management‘ lernen könnte,10 die Wirtschaftsästhetik fragt hingegen eher danach, was die Organisationstheorie von den Künsten lernen könnte.

Chodzinski: Wann ist dann das Interesse an künstlerischen Praktiken gewachsen?

Tröndle: Mitte der 1980er, Anfang der 1990er hat sich das Interesse der Kunst gegenüber der Organisation deutlich gesteigert. Dieses Interesse wurde allerdings kaum erwidert. Sicher gab es vereinzelt Programme, wie zum Beispiel das Xerox Parc Program11 und anderen residency programs12, in denen bewusst mit Künstlern gearbeitet wurde. Dies waren jedoch Einzelfälle und es gab kaum einen wissenschaftlichen Diskurs dazu. Im deutschsprachigen Raum existierten nur sehr vereinzelte Publikationen und Projekte.13

Der wissenschaftliche Diskurs oder besser: das Interesse der Ökonomen und Organisationstheoretiker zeigt sich erst nach 2000.14 Es gibt einen deutlichen Anstieg von Publikationen, in denen sich Organisationstheoretiker damit auseinandersetzen, was man von künstlerischen Produktionsweisen und Strategien lernen kann.15 Ein vielschichtiges Gebiet, denn es gibt auf Seiten der Künstler unterschiedlichste Ansätze, Organisationen zu kritisieren, zu intervenieren aber auch zu transformieren. Und dann ist da das Interesse der Organisationstheorie, die Frage zu beantworten, wie künstlerische Prozesse auf organisationale Prozesse übertragen werden können. Wie sind Arbeitsprozesse in den verschiedenen künstlerischen Sparten organisiert? Was macht ein Orchester so besonders? Wie funktioniert Projektarbeit im Theater, wo man lange Zeit das Ziel nicht kennt, obwohl man bereits einen festen Premierentermin hat? Auch die Epistemologien der künstlerischen Praxis und deren Anwendbarkeit rücken in das Interesse. Der Begriff Wirtschaftsästhetik versucht dabei, ein ,umbrella term‘ zu sein, der diese Praktiken und Analysen bündelt.

Chodzinski: Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften basiert auf unterschiedlichen Wissensformationen: Aus dem Erfahrungswissen, das in den Manufakturen von Generation zu Generation weitergegeben wird, gebiert sich an den Handelsschulen eine vermittelbare Methodik. Methoden sind wie Werkzeuge und eng verwandt mit Regelhaftigkeit, Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit. Unternimmt die Wirtschaftsästhetik den Versuch, eine Methode ‚Kunst‘ zu generieren? Kunst ist doch letztlich eine der wenigen Professionen, die auch heute noch mehrheitlich erfahrungsbasierte und kontextabhängige Handlungsformen erarbeitet, die gerade nicht Methode, sondern Praxis sind.

Tröndle: Bei der Formierung und Professionalisierung einer Disziplin geht es um die Annäherung an eine Problemstellung. Diese Disziplinierung beinhaltet auch die Zuschneidung des Problems auf einen bestimmten Rahmen, eine Verortung und eine Methodik, mit der man sich dem Problem annähern kann. Ein Beispiel: Man untersucht einen Fluss. Man kann Wasserproben chemisch analysieren, ihn als Biotop untersuchen, man kann ihn schwimmend durchqueren, man kann ihn fotografieren oder malen, physikalisch oder geologisch untersuchen. Die Ergebnisse sind unterschiedliche Erklärungsansätze davon, was ein Fluss oder dieser Fluss ist. Mit dieser Disziplinierung geht eben auch einher, welche Differenz zur Beobachtung man zieht. Anhand verschiedener Bezugsrahmen bringt die Organisationstheorie jeweils andere Differenzen zur Beobachtung der Organisation zur Anwendung, zum Beispiel die Regeln und Rollen, Hierarchien und Machtverhältnisse, Produktionsabläufe, Kommunikationsakte, Handlungen, Umweltfaktoren etc. Durch diese Differenzen entfaltet sich neues Wissen.

Wenn wir jetzt die Differenz der Ästhetik einziehen, handelt es sich nicht mehr nur um eine Beobachtung, sondern auch um eine Praxis. Das Reizvolle hieran ist, eben nicht nur Differenzen einzuziehen, die wissenschaftlich valide, reliabel und nachvollziehbar sind, sondern Organisationen mit künstlerischen Methoden zu untersuchen, also subjektive und materialisierte Methoden zu verwenden. Diese künstlerischen mit wissenschaftlichen Forschungsmodi zu verbinden eröffnet neue Untersuchungsmethoden, Darstellungsformen und dadurch auch neues Wissen.16

Chodzinski: Inwieweit geht dies von einem homogenen System Kunst aus?

Tröndle: Überhaupt nicht. Natürlich hat eine klassische Theaterproduktion eine andere Produktionsweise als ein Orchester oder ein bildender Künstler im Kunstsystem. Wir können diese Organisationsformen jeweils analysieren, und danach fragen, was das Spezifische dieser Art der „Herstellung“ ist. Dabei ist in den Künsten Produktion oft auch Teil der Distribution und der Produktionsprozess zentraler Bestandteil der Arbeit selbst. Aber es gibt auch ganz andere Aspekte, die nicht nur auf dem Verfertigen von Dingen liegt. Insgesamt können für das Forschungsfeld „Wirtschaftsästhetik“ meiner Meinung nach fünf Teilgebiete ausgemacht werden, die jedoch nicht streng abgegrenzt sind und teils miteinander kombiniert werden können. Dies sind:

Strategien und Methoden zur Organisationsgestaltung: Darunter verstehe ich die Analyse und den Transfer künstlerischen Produktionswissens, z.B.: Was kann von „Hochleistungsorganisationen“ wie Orchestern, die ein Höchstmaß an Koordination und Perfektion bei der Produkterstellung erbringen, für die Organisationsgestaltung gelernt werden? Welche Organisationskultur bestimmt die Organisation Orchester, wie lernt sie? Wie kann das implizite Wissen des Orchesters auf andere Organisationen übertragen werden, die ein hohes Maß an Koordinationskompetenz benötigen und nur einen Versuch für die Ergebnispräsentation haben? Wie funktioniert die Kommunikation und die Abstimmung in einem Ensemble?17 Was lernt man von einem Theater-Probenprozess?18 Oder: Wie schafft es das Kunstsystem, ständig ein so großes Innovationspotential zu entwickeln? Kann die Organisation des Kunstsystems Vorbild sein für Unternehmungen, die auf hoch innovativen Märkten agieren?19

Strategien und Methoden zur Organisationsentwicklung: Welche Perspektiven eröffnen Künstler – die Spezialisten zur Beobachtung und Reflektion der Gesellschaft, wenn sie die Kultur einer Organisation beobachten? Wie lassen sich künstlerische Methoden der Übersetzung kultureller Phänomene in Organisationen einsetzen? Welche Möglichkeiten zur Organisationsentwicklung ergeben sich aus den Methoden der künstlerischen Forschung?20 Auch das Thema Leadership ist mittlerweile fester Bestandteil des Interesses.21

Inventionsstrategien: Der Versuch, Kreativität „anzuzapfen“ und mit Managementtools einzufrieden, ist angesichts der Komplexität kreativer Prozesse naiv. Wie könnten Settings gestaltet sein, in denen künstlerische Kreativität in Organisationen für beide Seiten befriedigend und zielführend eingebracht werden kann? Produktive Irritation, Leadership und die Veränderung der Kommunikation sind hierfür zentrale Begriffe im Diskurs der Organizational Aestehtics.22

Innovationsstrategien: Kreativität ist das Vermögen, etwas Neues zu schaffen, man könnte sagen: eine Anpassungs- und damit Überlebensstrategie intelligenter Wesen. Die Fähigkeit zur Innovation hingegen ist eine Anpassungs- und Überlebensstrategie von Gesellschaften – Innovationen machen Gesellschaften im Wettbewerb miteinander leistungsfähig. Der Innovationsprozess selbst entwickelt sich von der Invention über die Intervention und wird dann gegebenenfalls zur Innovation. Die Invention steht für den individuellen Einfall oder die Idee und deren Ausarbeitung, die Intervention bezeichnet das Einbringen des Neuen in die Gesellschaft. Je größer die Differenz zum Bestehenden oder Gewohnten ist, also je ‚neuer‘ die Sache ist, desto eher wird der Überraschungs- zum Störakt und damit steigt die Ablehnungswahrscheinlichkeit. D.h. das Neue einer Idee oder Sache wird erst durch den Gebrauch ihrer Benutzer definiert und nicht durch ihr bloßes Vorhandensein. Erst so entsteht aus einer Invention eine Innovation, und zwar durch die Akzeptanz der Intervention.23 Wenn wir also über Neuerungen nachdenken, müssen wir zwingend zwischen Inventionen und Innovation unterscheiden. Wie Inventionen zu Innovationen werden, dafür haben Künstler verschiedene Interventionstechniken entwickelt, bspw. Aufladung, Inszenierung, Kontextualisieren, Seltsam-Machen, Reframen, Intervenieren etc. Künstler sind nicht nur bei der Herstellung des Werkes kreativ, sondern vor allem bei dessen In-Kontext-Bringen. Dies ist die tatsächliche „künstlerische“ Innovation: Werte zu produzieren durch das Etablieren bestimmter Bedeutungsökonomien. Welche Kommunikationsstrategien zum Aufbau einer Bedeutungsökonomie können in die Wirtschaftswissenschaften transferiert werden?24

Strategien und Methoden der Organisationskritik: Intervention zur Selbstreflexion. Die Ästhetisierung der Alltagswelt durch Produkte der Warenwelt hat den Künsten den Rang als Oberflächengestalterin abgelaufen, die Künste setzt zunehmend auf Prozesse und Konzepte. Der Wirtschaftsästhetik geht es daher weniger um Verschönerung als darum, unsere durch Produktion und Distribution, Organisation und Kommunikation geprägte Lebenswelt zu hinterfragen, also letztlich um eine menschlichere Gestaltung des wirtschaftlichen Handelns. Denn gerade in einer kritischen Haltung gegenüber dem Verhalten von Unternehmen, Hierarchien, Rationalisierung, Monopolisierung und Digitalisierung kann künstlerisches Arbeiten in den Produktionsprozessen, Produkten und im organisationalen Selbstverständnis Innovationen freisetzen, die sich auch ökonomisch rentieren. Welche Möglichkeiten der kooperativen Intervention lassen sich entwickeln, um die ,corporate social responsibility‘, also das soziale Engagement der Unternehmen zu verändern?25 Statt ,community development‘ geht es hier um ,organizational development‘ als eine Form der sozial engagierten Kunst.

Chodzinski: Wer sind denn die Künstler, die mit Unternehmen agieren? Wie werden sie ausgewählt? Viele Fallbeispiele zeigen hier eine indifferente Auswahl, deren Grundlage aus Bekanntschaften und Empfehlungen besteht. In der Regel handelt es sich um Künstler qua Selbstbehauptung und ob diese dann wirklich sinnvoll zu agieren in der Lage sind, ist zu bezweifeln. Der Kunstmarkt und dessen Bewertungsskalen spielen im wirtschaftsästhetischen Bereich kaum eine Rolle. Ist es ein Problem, dass es für dieses spezielle Handlungsfeld keine Maßstäblichkeit, keine Qualitätsmerkmale sozusagen gibt, oder entsteht da bereits etwas Drittes, das zwar noch keine Displayform und kein Referenzsystem hat, aber dennoch da ist?

Tröndle: Ein Problem ist, dass die Künstler verunsichert sind, denn wenn sie solche Projekte machen, werden sie im Kunstsystem oft nicht mehr als Künstler angesehen, sondern gelten als ‚gescheitert‘, da sie keine Zulieferer kunstmarkttypischer Produkte sind. Damit entfällt ein Absatzmarkt. Oder man wirft ihnen vor, ihre Autonomie verloren zu haben, da sie mit oder für Organisationen arbeiten. Aber auch auf Seiten der Wirtschaftswissenschaften zeigen nur wenige Vertreter Anschlussfähigkeit gegenüber einer ästhetischen Perspektivierung ihrer Disziplin; das scheint zumindest im Mainstream einer von Rationalitätsprämissen getriebenen Wissenschaft immer noch exotisch.

Chodzinski: Was ist denn konkret das Interessante einer künstlerischen Praxis in einer Organisation?

Tröndle: Dazu gebe ich gerne ein Beispiel: Wenn wir davon ausgehen, dass Künstler auf die Beobachtung von Kultur in und der Gesellschaft selbst spezialisiert sind, dann muss es doch interessant sein, wenn Künstler Organisationskulturen beobachten. Auch wenn Kunst die Wahrnehmung irritiert, d.h. man seine Selbstwahrnehmung aktualisiert, daraus etwas lernt und die Kunst so dazu beiträgt, dass man über Werte diskutiert, sind das Prozesse, die für Organisationen und deren Bestehen in Gesellschaften essentiell sind. Das Feld Wirtschaftsästhetik ist jedoch weitaus vielfältiger und umfasst nicht nur die Beobachtung und Transformation von Organisationskultur.

Es gibt wohl kaum ein anderes Phänomen im 20. Jahrhundert, das so erfolgreich war, wie die Durchdringung der Gesellschaft durch Organisationen. Nahezu immer sind wir heute in Organisationen eingebunden, gleich ob es im Kindergarten, in der Schule, oder der Universität ist, beim Radiohören, Telefonieren, … durchgehend treten wir mit Organisationen in Kontakt und Organisationen bestimmen unser Leben, wir sind „organisifiziert“. Organisationen zwingen uns in bestimmte Handlungsbahnen und erzeugen kollektive Deutungsmuster, kollektive Handlungen. Moderne Gesellschaften zeichnen sich vor allem durch ihren Grad der Organisiertheit aus. Organisationen zu untersuchen und sie kritisch zu reflektieren halte ich daher für Künstler, die gesellschaftsrelevant arbeiten wollen, als eine wichtige Aufgabe. Dabei ist klar, dass Künstler oder Organisationberater, bei aller kunst-inhärenten Kritik, auch konstruktiv-pragmatisch sein müssen, wollen sie die „Wirtschaftsästhetik“ gegenüber Organisationen in Wirtschaft, Bildung und Verwaltung vertreten. Die Aufgabe der Wissenschaftler ist es hingegen, Fallanalysen und Vergleiche vorzunehmen sowie das Feld kritisch zu ordnen. Darum soll es in diesem Heft der Zeitschrift für Kulturmanagement gehen.

Arbeitsjournal: Führung, Armin Chodzinski, 2016

Armin Chodzinski

Alles Durcheinander: Führung, Organisation, Autorschaft, Management, Regie, Intendanz, Ästhetik, Bild und Sprache, Wort und Strich, Ordnung und Chaos, Archiv und Ablage P.

Alles durcheinander und die Sehnsucht nach Übersichtlichkeit bekommt Konjunktur.

Alles ist miteinander Verwoben und alle sind von allen abhängig und das Wir wird ganz groß geschrieben: WIR! Aber die Ressource! Die Ressource, das bin ich selbst und verantwortlich bin ich! Sentimental werden die Geschichten von früher erzählt, Geschichten, in denen ein Patriarch vorkommt, eine Regel, eine Hierarchie, ein Organigramm:

„Eines der Erfolgsgeheimnisse der AEG um 1900 waren die detaillierten Pläne der Werkstatteinrichtung, die der Gründer Emil Rathenau auf Papier entwickelte. Rathenau liess sich, nicht wie andere durch die Praxis in der Werkstatt beeinflussen, sondern organisierte mit Stift und Papier Maschinen, Prozessketten und Abläufe einfach neu. Auf einem weissen Blatt Papier ordnete er Maßstabsgetreu die Maschinen in der Architektur an, um Prozesse zu optimieren und sich dabei nicht von etwaigen Aufwänden, Schwierigkeiten oder ethischen Bedenken beeinflussen zu lassen. Das bestmögliche Ergebnis entstanden auf Papier ohne Rücksicht auf die diffizile Umsetzung, aber mit fachkompetenter Expertise. Ein Papier, ein Plan, eine Zeichnung als Anweisung, Führung als Befehl und alles andere ist Material. Rathenau hatte sich wahrscheinlich viel zu erzählen mit dem Künstler Peter Behrens, der an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule Kompositionsübungen auf Papier als die Grundlage eines künstlerischen Schaffens predigte, das in der Gesellschaft wirksam werden wollte. Es ging auch um Zeichnung als Behrens zum künstlerischen Beirat der AEG berufen wurde: Der Künstler, der durch die Zeichnung die AEG zwischen Produkt, Architektur, Werbung, Logo als Heilsbringer für die Welt erschaffte und Rathenau, der mittels Zeichnung Effizienz, Prozessoptimierung und theoriebasierte Führung in Produktion und Logistik realisierte.“

Die Anweisung, die totalitäre Behauptung hat sich nicht nur in der Kunst ad absurdum geführt, sondern ist in allen gesellschaftlichen Feldern, dem Dialog gewichen, dem Zeigen, dem Diskutieren, dem Ver- und Aushandeln. Die Welt ist nicht wirklich komplexer geworden, aber die Komplexität ist sichtbarer. Die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit des Wissens macht es nicht eben einfacher und die Sprache kommt ein uns andere Mal an ihre Grenze. Wenn der Vertriebsleiter im Handelskonzern vor 20 Jahren der Nachfrage einer Angestellten mit einem lauten „Ich geb’ Dir gleich Warum!“ begegnete, war das damals schon nur noch als Witz zu verstehen.

Abbilder von Organisationen als Mittel oder Vergegenwärtigung von Führung beruhigen vielleicht den ein oder anderen, aber mit der Wirklichkeit haben diese nur wenig zu tun. Wir sehnen uns danach, das die Verbindung zweier Punkte eine gerade Linie ist, das es ein Oben oder ein Unten gibt, das alle Verbindungen sichtbar sind und ansonsten betrachten wir schöne Eisberge und finden Synonyme für das Unbekannte: UROG. Die Organisation als mythische Erzählung. So wie die Künstler lernen mussten, das es keine Autonomie gibt, das alles immer einen Kontext und einen Leistungsort hat, so ist dies in allen anderen gesellschaftlichen Feldern auch zu lernen: Die Verhältnisse wechseln, die Kontexte verändern alles, die Methoden sind nicht universell und das Eindeutige nichts weiter als eine Vereinbarung – eine temporäre Vereinbarung.

Armin Chodzinski – hat bildende Kunst studiert, in Unternehmen gearbeitet und in Anthropogeographie promoviert. An unterschiedlichen Hochschulen in Deutschland und der Schweiz dozierte er zu Wirtschaftsästhetik, Handlungskompetenz, Art in Public Sphere, Raumtheorie. Er macht Zeichnungen, Radiostücke, Lecture Performances und begleitet als künstlerischer Beirat Unternehmen. www.chodzinski.com

Die Arbeit ,Führung‘ ist 2016 im Magazin „versus“ von Metaplan erschienen.

  1. Datenblatt einer Messung aus der Trigeminusneuralgie mit Notizen zum Thema Hirnforschung, Wahrnehmungsgewohnheiten und Hypothesen zur Informationsverarbeitung von Organisationen. Notiz, Februar 1999.
  2. Alfred Georg Frei: Der Mann, der Davos erfand – Wie der linksradikale Asylant Alexander Spengler aus einem stillen Alpenwinkel den Ort machte, in dem diese Woche wieder die Welt konferiert. Aus: DIE ZEIT, Nr. 5 vom 23. Januar 2003, Seite 78
  3. Ulrich Krakel: Gefangen im Land der Oligarchen – Die Ukraine finde keinen Ausweg aus ihrer Dauerkrise. Aus: Tages-Anzeiger, Dienstag, 13. Dezember 2011, Seite 8
  4. Kann ich Eisbär werden? (Bilder von Eisbergen). Zeitungsausriss, Herkunft unbekannt, ca. 2001
  5. Thomas Hahn: Die Stadt spricht – Twitter? Facebook? Nichts ist besser als die guten, alten Zettel an Bäumen und Laternen. Aus: Süddeutsche Zeitung, Nr. 198, 27./28. August 2016, Seite 10. Bildunterschrift: „Die Macht der Zettel: Protestaktion der Pro-Demokratie-Bewegung in Hongkong mit bunten Post-its.“
  6. Kanzleibogen (unbeschrieben), kariert Din-A2.
  7. Studie zu geplanten Verdichtungen, Bleistift auf Papier, 2016
  8. Perspektive: Inhalt. Vermittlungschart der Chodzinski-Noppeney-Consulting, ca. 2001
  9. Perspektive: Prozess. Vermittlungschart der Chodzinski-Noppeney-Consulting, ca. 2001
  10. Perspektive: Form. Vermittlungschart der Chodzinski-Noppeney-Consulting, ca. 2001
  11. 2 kleine Teller, Werkskantine AEG, undatiert.
  12. Skizze zur Berechnung der Doppelhelix-Struktur, James Watson/Linus Pauling, 29.Nov 1952. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 50, 28. Februar 2003, Seite 36
  13. 13.  Die wirrsten Grafiken der Welt: Virtuelles für Personalmanager. In: Die tageszeitung (taz), 16. August 2002, Seite 16
  14. Sibirische Tiger beim Baden im Leipziger Zoo, Fotografie, 1999
  15. Ohne Titel (Matrix-Organisation auf ungeklärter Historie). Zeichnung. Bleistift, Tinte, Post-its auf Papier, Din-A-3, 2016
  16. Ohne Titel (Ablauforganisation mit informellen Strukturen). Zeichnung. Bleistift, Tinte, Kleberechtecke, Post-its auf Papier, Din-A-3, 2016
  17. Ohne Titel (Business Units in Traditionsunternehmen). Zeichnung. Bleistift, Tinte, Klebepunkte auf Papier, Din-A-3, 2016
  18. Postkarte: Bob Thomas, Working Class Britain, 2000
  19. Besen
  20. Ohne Titel (Global agierender Konzern). Zeichnung. Bleistift, Tinte, Post-its, Klebepunkte, Klebeband auf Papier, Din-A-3, 2016
  21. Ohne Titel (Business Units in Traditionsunternehmen II). Zeichnung. Bleistift, Tinte, Klebepunkte auf Papier, Din-A-3, 2016
  22. Ohne Titel (Grassrootsbewegung, erfolgreich). Zeichnung. Bleistift, Tinte, Klebepunkte auf Papier, Din-A-3, 2016
  23. Ohne Titel (Grassrootsbewegung, stagnierend). Zeichnung. Bleistift, Tinte, Klebepunkte auf Papier, Din-A-3, 2016
  24. Männerwirtschaft – So funktioniert die deutsche Unternehmenskultur: Jeder misch bei jedem mit. In: Süddeutsche Magazin, Nummer 37, 12.September 2008, Seite 18f
  25. Postkartenständer und Fliochart mit je einer Postkarte, die Josef M. Ackermann zeigt. Zwei Fotografien, 2001
  26. Hendrik Ankenbrand: Unsere neuen Hungerlöhner – Sie kommen aus Rumänien und Bulgarien und machen Arbeiten, die sonst keiner will. Aus: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 43, 27. Oktober 2013, Seite 21. Bildunterschrift: Arbeiter im Schlachthaus.
  27. Flüstertüte, Batteriebetrieb mit Aufnahme-Funktion
  28. A.A.Huczynski/D.A.Buchanan: Organizational Behaviour. 2. bis 8., jeweils überarbeitete Ausgabe, 1991 – 2013. Prentice Hall
  29. aesthetics. Zeichnung. Filzstift und Kohle auf Papier, 30x40cm, 2009
  30. Revue für postheroisches Management. Heft 01/07.
  31. Patricia Pitcher (1997): Das Führungsdrama – Künstler, Handwerker und Technokraten im Management. Klett-Cotta.
  32. H. Lachmayer/ E. Louis (1998(Hrsg.)): Work&Culture – Büro, Inszenierung von Arbeit. Ritter Verlag
  33. B. Latour/P.Weibel (2005(Hrsg.)): Making Things Public – Atmospheres of Democracy
  34. Orientalische Hochzeitsvase.
  35. Min-Fog, portable Nebelmaschine.
  36. 4 tiefe Teller, Werkskantine AEG, undatiert.
  37. Armin Chodzinski (2007): Kunst und Wirtschaft – Peter Behrens, Emil Rattenau und der dm drogerie markt. Kadmos
  38. Flüstertüte
  39. Werkstatthocker, Buche, ca.1950
  40. Nachbau, der Rickenbacker 325 Gitarre, mit der John Lennon 1964 in der Ed Sullivan Show „I want to hold your hand“ spielte.